Relationen. In einem Land, in dem die Boulevardzeitungen täglich mit Fotos von Leichenfunden aufmachen, ist der Babyfund Normalität. Das war mir schon vor meiner Abreise klar. Mir war klar, dass fast alles relativ ist. Und dass es ziemlich anstrengend werden könnte, jedes Mal seine alten Vergleichsschablonen auszupacken. Ich hatte gelesen, dass die soziale Scheere in Guatemala wie zwei Flügel auseinanderklafft. Ich hatte Fotos gesehen und Berichte gehört. Aber eigentlich wusste ich nichts.
Fühlen und wissen. Mit all den Buchstaben und Grafiken, mit all den Texten im Kopf sitze ich also in der Camioneta und denke über Relationen nach. Denke über Medienethik nach, über Privilegien und Gesellschaftssysteme. Eigentlich wiederhole ich nur alles, was ich schon weiß. Trotzdem ist es diesmal klarer. Vielleicht könnte man schreiben, dass ich mein Wissen fühle. Aber das wäre Kitsch.
Ortswechsel: Vor anderthalb Wochen eröffnen sich vor uns zwei grüne Flanken und formen ein seichtes Tal. Vor ein paar Minuten sind Vulkane und Wolken an unserem Pick-Up vorbeigezogen, jetzt steigen wir den steilen Pfad nach "Mano de Leon" hinab. In dem Pueblo auf knappen 1700 Metern ernähren sich die Menschen hauptsächlich vom Mais, der hier überall die Hügel säumt. Strom und fließendes Wasser gibt es nicht. Zwölfjährige bestellen in ihrer Freizeit mit armlangen Macheten dieeigenen Felder. Fleisch essen die Menschen hier selten oder nie.
Das soll sich heute ändern. Im Gepäck haben wir 20 Libras Rindersteak, die eine Frau aus Jocotenango für das Dorf gespendet hat. Schnell schaaren sich die Kinder um unseren Grill aus Steinen und zwei Metallrosten. Fast schüchtern warten sie in einer Linie auf ihre Portion, aber sie haben Hunger. Beim Anblick der Plastikbox mit den knappen 100 Stücken Fleisch für 20 Kinder hatte sich mein Dekadenzdenken wieder eingeschaltet, aber die Ninos – manchmal keine fünf Jahre alt – kommen einmal, zweimal, dreimal. Nach zwei Stunden ist die Box leer.
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| Credits: a ver guate! |
Ich könnte jetzt glücklich sein, weil die Kinder satt sind. Oder traurig, weil dafür Kühe sterben mussten. Aber in meinem Kopf startet ein anderer Film. In der Politologie streiten sie sich gerne über die richtige Entwicklungspolitik. Das fängt bei der Terminologie an. Entwicklungshilfe sagte man früher, heute heißt es Entwicklungszusammenarbeit. Ob man den sogenannten "Entwicklungsländern" nicht automatisch sein eurozentrisches Weltbild aufdränge, wird da gefragt. Ob es nicht nachhaltiger sei, kleine, indigene Dörfer ihre eigenen Wege gehen zu lassen? Zugespitzt könnte man formulieren, ob es besser ist, die Menschen an Hunger und Unterernährung sterben zu lassen oder die Gefahr einzugehen, sie zu retten und in ihrer eigenen Entwicklung zu beeinflussen. Aber das wäre zynisch.
Als mir der Carbon-Rauch ins Gesicht schlägt, passiert auf jeden Fall das Gleiche wie in der Camioneta. Ich kenne den Konflikt der Entwicklungspolitik, aber erst jetzt formt sich der Gedanke zu einem Bild. Er nimmt Gestalt an. Während ich noch beim Aufstieg von unserer Grill-Mission überzeugt war, fühlt es sich plötzlich komisch an, die Kinder beim Verschlingen der Fleischstücke zu beobachten. Wenn einige der Ninos tatsächlich noch nie Fleisch gegessen haben, wieso stimulieren wir jetzt dieses Bedürfnis? Wenn die Ernährung der Bergbewohner über Jahre im Einklang mit ihrer Natur funktioniert hat, wieso schlagen wir dann jetzt einen Keil in die Verbindung? Andererseits: triefen nicht gerade solche Gedanken von der Romantisierung des harten Lebens im Tal? Sollten wir nicht gerade den Menschen in "Mano de Leon" dieses Foodfest gönnen?
Wissen und fühlen. Nach unserem Besuch im Bergdorf, fühlen sich meine Gedanken über die Entwicklungsfrage zum ersten Mal gefestigter an. Wenn Wissen immer und überall abrufbar ist, muss man Dinge vielleicht erleben, um sie zu verstsehen. Vielleicht erklärt das, warum Menschen über den halben Globus jetten und in fremden Ländern arbeiten und leben. Vielleicht spricht aus solchen Überlegungen aber auch nur die absolute Übersättigung und Arroganz.
Im besten Fall fegt das Erleben die Vorurteile weg. Vor zwei Wochen herrscht ein kleiner Ausnahmezustand in "Los Patojos". Eine Delegatioin von "Just World" hat sich angemeldet. Wohlhabende Menschen aus Amerika, die das Projekt zum größten Teil finanzieren, wollen sehen, was mit ihrem Geld passiert. Deswegen üben die Klassen Rap-Songs ein, studieren Tänze, die Zirkus-Gruppe plant eine eigene Vorstellung. Wieder dämmert mir ein Uni-Text über das Nord-Süd-Gefälle, über Abhängigkeiten, über die herumdrucksenden Versuche des "Westens" sich von historischen Sündenfällen reinzuwaschen. Und dann fahren zwei abgedunkelte Jeeps vor und weiße Menschen strömen mit Videokameras und rosa Hemden in den Salon.
Hier könnte die Geschichte enden, aber nach zwei Stunden turnen die blonden Reitergirls von "Just World" wie jeder andere Voluntario auch mit den Ninos herum. Einige Jungs der Delegation hauen mir mit ihren Sprachskills mein 3-Monate-Spanisch gehörig um die Ohren. Und die Show wird von den Patojos aus unserem Projekt mindestens so hart gefeiert, wie sie die Erwartungen der Amerikaner erfüllt.
Abends sitzen wir ziemlich durch im Projekt und trinken Gallo. Lehrergehälter für ein Jahr, eine neue Toilette, Ventilatoren für die Klassensalons, bilanziert der Projektleiter Pablo. Das ist natürlich eine Abhängigkeit der feinsten Sorte. Aber wie alle so leicht borracho dasitzen, sagt mir mein gefühltes Wissen, dass es für die knappen 100 Ninos im Projekt Wichtigeres gibt als diese theoretischen Bedenken.
Die S/W-Fotos sind alle in Mano de Leon entstanden und wurden nachher in unserer Dunkelkammer mit Caffenol entwickelt!!! Die Foto-Action läuft nämlich endlich an!

