Verrückt. An den Bananenstauden kleben Wegweiser zu Yoga-Zentren, zu Massage-Fincas, zu All-Inclusive-Relaxangeboten für all die Burn-Out-Kandidaten unserer westlichen Wohlfühlgesellschaften. Für zwei Tage bin ich mit Jan an den Lago Atitlan gefahren, dorthin wo das Wasser so schön grün und die Vulkane so schön mit Bäumen bewachsen sind. Auch wir wollen hier ein paar Stunden entspannen und das funktioniert nicht schlecht, wenn man von dem 6-Meter-Turm gesprungen im klaren Wasser schwimmt und sich vor einem drei Vulkane in den Himmel strecken und Wolken einfangen.
| Fischer am Morgen |
Es dauert trotzdem nicht lange, bis Jan (der hier mit schönen Lago-Bildern über fast das gleiche Thema gebloggt hat) und ich auf einem Felsen hocken und uns über unser derzeitiges Lieblingsthema echauffieren: Westlicher Postmaterialismus (von hier aus gesehen: östlicher), dieses sperrige Wort zwischen Arroganz und Aufklärung, Scheinheiligkeit und ziemlich vernünftigen Einsichten.
Einen Abend zuvor sitzen wir auf einer klapprigen Bühne und warten auf die Show. "Vamos a circo! Vamos a circo! Vamos a circo!" Seit einer Woche schreien die Zirkunsleute, die auf dem Acker gegenüber von Los Patojos aufgeschlagen haben, die Jocotenanger in ihr grünes Zelt. Für zehn Quetzales (ein Euro) ein guter Deal.
Die Sache mit dem Postmaterialismus. Hinter den Hecken verstecken sich in San Marcos die Ruhepole. Weiße Metallstangen formen kleine Pyramiden, dahinter sitzen weiße Menschen und verdrängen für 150 Quetzales am Tag ihre Alltagssorgen. Während die Seeanrainer mit den krassesten Überschwemmungen seit Jahrzehnten zu kämpfen haben (Wasserpegel um sechs Meter angestiegen), wollen sie hier nur Massage und Meditation, keine 3er-BMWs mehr, keine Flatscreens und erst recht keine Coca-Cola.
Also das, was auch unter den meisten Studenten als hip gilt: Den Fernseher rausschmeissen, mit dem Rad zur Uni, Club Mate als Erfrischung. So habe ich meine drei Erfurter Jahre auch zelebriert.
Die Show beginnt. Ein vielleicht 18-Jähriger schleudert Keulen durch die Luft, fängt sie ein, schleudert sie hoch, drei, vier, fünf, fängt sie ein, tauscht sie gegen Sombreros, die jetzt wie Bumerangs durch die Luft flattern. Dann kommen die Hunde. Dressiert und am Hintern rasiert hüpfen sie über den roten Boden, täuschen Pudel-Sex vor, tapseln in Röcken und Anzügen hintereinander her. Zwischen den Stücken geben die Zirkuskinder ihre Lachnummern zum Besten. Tanzen in Schlumpf-Kostümen herum, Zack, sexy Schläge auf den Schlumpfpopo. Die Menschen lachen, glucksen. Sie feiern hart, weil sie ihren harten Alltag für zwei Stunden vergessen können.
Vor dem Abflug hatte ich gedacht, dass ich das Bedürfnis nach dicken Karren, nach Flatscreens und billigen Cokes nach Guatemala noch weniger würde verstehen können. Das ich die Zirkusgeschichte natürlich verurteilen würde. "Die armen Kinder, und dann erst die Hunde!"
Die Sache mit dem Postmaterialismus würde sich festigen, hatte ich gedacht. Und auch die Sache mit der moralisch richtigen Einstellung, die man sich als gesättigter Westler so leicht gönnen kann.
Aber ich sitze auf der Zirkusbank und denke, was ich hier schon oft gedacht habe. Dass es vielleicht gut arrogant ist, diese Zirkusleute einfach abzuurteilen, seinen schicken Lifestyle zu pflegen, und nach ein paar Monaten wieder in die (halbwegs) abgesicherte Zukunft abzuheben. Dass es hier in Guatemala vielleicht komisch kommt, über abgesägte Fernseher und aussortierte Cokes zu phrasieren. Dass die Pudel-Nummer natürlich an Tierqäulerei grenzt, aber dass die Zirkusleute vielleicht keine andere Wahl haben, weil das Publikum so eine Show sehen will.
In San Marcos kommt nach ein paar Minuten von rechts ein Guatemalteke auf unseren Felsen zugetaucht. An Land begleitet ihn ein anderer Mann mit Machete. Die beiden sind Indigenous und jagen Flusskrebse. Sie sprechen auch Spanisch neben ihrer Maya-Muttersprache und fragen uns, ob man in Deutschland Englisch spricht und ob es in Amerika Arbeit gibt. Als der Plastiksack mit den dahinsiechenden Tieren voll ist, fischt der Taucher ein Stück Seife aus seiner Tasche und springt vollgeseift in den Lago.
Die Sache mit der guten Moral, mit dem Postmaterialismus ist, dass die Gedanken dahinter nicht falsch sind. Für den Fischer ist es komplett normal, sich im See zu waschen, die Krebse zu jagen. Wenn aber alle Bewohner anfangen, ihre Seife in den See zu schmeißen, wird das zum Problem. Wenn jeder seinen Krebs essen will, gibt es bald keine mehr. Und die Arbeit, die in den Staaten für den vermeintlichen Wohlstand wartet, ist meistens auch nicht der Knaller. Ob es erstrebenswert ist, seinen eigenen See zu verschmutzen und nach schlecht bezahlter Arbeit für Geld für sinnlose Sachen zu schielen, muss jeder selbst wissen.
Das ist die Krux der Geschichte. Wahrscheinlich tut der Postmaterialist mit seinen moralischen Ansprüchen das Richtige, doch gleichzeitig erhebt er sich und sein Handeln. Das ist manchmal arrogant und immer anstrengend. Seine Ideale gibt er so auf jeden Fall nicht weiter.
Und wenn sich die Touris in San Marcos ihren Seelenfrieden erkaufen oder Hipster in Deutschland mit ihren in China gefertigen MacBooks aufgeregte Artikel über Arbeiterrechte und Umweltverschmutzung tippen, dann ist das auch nichts anderes als die zwei Stunden Zirkus hier in Jocotenango. Eine große, schöne, bunte Show.
Außerdem ist der Kurzfilm "Memorias de abril" online. Jan und ich haben gefilmt und geschnitten (auf einem Mac).
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