Mittwoch, 14. März 2012

Volksfest²

Sonntag: Prozessionstag.
Gaben: Die gesamte Hauptstraße von Pastores bis Jocotenango ist mit Opferteppichen überzogen...
...und überall laufen wieder die Kuttenmänner herum. Diesmal schwingt jeder Dritte sein Weihrauchfass.
Wer hat die Größten? Um die Prozessionsstatuen gibt es einen regelrechten Wettkampf der Kirchengemeinden...
...zum Leiden der Träger, für die dies aber eine Ehre darstellt...
...und ganz besonders für die Frauen in Stöckelschuhen, die eine kleinere Statuenvariante durchs Dorf tragen.
Beutezug: Nachdem die Prozession über die Teppiche geschritten ist...
...können sich die Menschen an den Opfergaben bedienen.
Dulces: Überall wittern Straßenhändler das Geschäft des Monats. Diese Frau hat sich auf bunte Lollies für einen Quetzal spezialisiert.
Ufftatta: Wie immer dürfen auch die Blaskapellen nicht fehlen...
...die vor allem christliche Geschichten heraufbespielen.
Sprenkelmänner: Neben den Kuttenkollegen wohl die wichtigsten Protagonisten der Show. Mit dem Wasser sorgen sie dafür,...
...dass die Teppiche aus Sägemehl und Holzspähnen schwer genug bleiben, um dem Wind zu widerstehen.
Kitschige Kirche: Schon zwei Abende zuvor stimmen sich die Guatemalteken mit einer Totenwache in der Kirche auf die kommende Prozession ein. Überdimensional grelle Altarbilder und "Jesus ist allmächtig"-Tonaufnahmen inklusive.

Montag, 27. Februar 2012

Ein Volksfest

Was einem zuerst auffällt sind die fliederfarbenen Kuttenmänner. Wie Filmrekruten laufen sie am Sonntag durch Antigua und tupfen noch mehr Farbpunkte in die Kopfsteinstraßen als es ohnehin schon gibt.

Bis zur Osterwoche ist es noch weit über einem Monat, aber die „Semana Santa“ beginnt in Guatemala schon jetzt. Jedes Wochenende gibt es Totenwachen in den Dutzenden Kirchen, jeden Sonntag trompetet sich nun eine Prozession durch Antigua. 


Über zwölf Stunden dauern diese Märsche gewöhnlich. Zwölf Stunden, in denen die Trompeter in ihre Hörner pusten, Jugendliche wie römische Soldaten über das Kopfsteinpflaster uniformieren und starke und schwache Arme überdimensionale Heiligenfiguren über ihren Köpfen bugsieren.

Zwölf Stunden Volksfest. Seit Tagen senden die Fernsehkanäle Werbung für die Umzüge, zeigen Grafiken mit den genauen Wegangaben der Paraden. Die Jugendlichen treffen sich hier abends und pilgern zur Velación. Als ich am Sonntag durch Antigua schlendere kommen mir immer wieder Jugendgruppen entgegen. Pärchen küssen sich, während sie auf das Spektakel warten.

Zuerst riecht man den Umzug. Rund eine Stunde bevor die Prozession an ihrer Haustür vorbeizieht, bereiten die Anwohner die Teppiche vor. Dazu sprühen sie Wasser auf das staubige Kopfsteinpflaster, legen die Bilder aus Blumen, Fichtennadeln, Obst und Gemüse zusammen und wässern nochmal. Wenn man Glück hat und die Sonne noch nicht alles weggetrocknet hat, kann man etwas von dem Gewitterregenduft mitnehmen. Sonst bleibt einem nur der Grillrauch von den unzähligen Essensständen, die Tamales, Tortillas und Steaks anbieten.


 



Nach dem Riechen kommen die Ohren: Blaskapellenmusik schlängelt sich um die Ecken der Straßen und kündigt den Aufzug der Fliedermänner an. Und dann kommen sie, wie ein lila Meer und die Ecke marschiert. Großväter, Prolls mit dicken Armani-Sonnenbrillen, Väter mit Kinderwagen. An ihre lila Kutten haben sie Bilder von Jesus geheftet, wie er mit seiner Dornenkrone leidet. In ihren Händen haben manche Sandwiches und Cola-Dosen.

Vielleicht eine Dreiviertelstunde dauert es, dann ist die Menschenmasse vorbeigezogen. Jetzt kommt die Nachhut. Kinder stürzen sich auf die Teppiche und ziehen Blumen, Kartoffeln und Mandarinen aus den Bildern heraus. Dann kommt der Reinigungstrupp. Ein Dutzend Männer fegt und schaufelt alles übriggebliebene zusammen, am Ende saugen Männer die Fichtennadeln mit riesigen Staubsaugern von der Straße. Die Versammlung an dieser Ecke löst sich auf. Schnell ziehen die Leute ihre Prozessionspläne aus den Taschen und huschen zur nächsten Station. 




Sonntag, 26. Februar 2012

Un Asalto


Einen Überfall hatte ich mir immer ziemlich spektakulär vorgestellt. An Waffen hatte ich dabei gedacht, an fiese, junge Kerle mit dicken Muskel und deftigen Sprüchen. Mindestens eine Machete hatten die Malditos in meinen Gedankenspielen dabei. Eine Knarre: darauf hatte ich mich eingerichtet.  

Freitag vor einer Woche. Wie immer ist heute Wandertag, wie immer machen sich rund 60 energiestrotzende Ninos bereit in die Berge zu stürmen. Und heute geht es tatsächlich in die Berge, zu einem Aussichtspunkt auf Jocotenango.

Nachdem wir die Stadt verlassen haben, biegen wir auf einen Feldweg ein. Es ist Sommer geworden in Guatemala und deswegen wirbeln die Kinderfüße staubige Dreckwolken vor uns her. An den Straßenrändern dürrt das Gras vor sich hin, immer wieder hupen uns Camionetas oder Moppeds zur Seite.

Wenn man mit Guatemalteken redet, kommt einem deren Sicherheitsgerede manchmal etwas paranoid vor. Mit der Camioneta in die Hauptstadt: Vorsicht. Nach 22 Uhr rausgehen: Lieber nicht. Nach dem Feiern von Antigua nach Hause laufen: Um Gottes Willen! Wenn ich in Erfurt nach dem Clubbesuch nach Hause geradelt bin, hatte ich höchstens vor den Polizeikontrollen Angst.

Wir haben gerade die letzten Häuser hinter uns gelassen als schon wieder zwei Typen auf ihrem Mopped heranknattern. Vorne ist die Kinderschlange mit Jan und Mauri schon in den Berg abgebogen, Rafa und ich schauen, dass hinten alle mitkommen. Die zwei Kerle beachte ich erst, als sie von ihrem Mopped absteigen. Kumpels von Rafa, denke ich.

Was wirklich abgeht, merke ich erst, als einer von den zweien ständig unter seine Jacke hineinfuchtelt. Immer wieder macht er diese Bewegung: Hand unter die Jacke, rumfuchteln, Hand unter die Jacke.... Die Kinder sind mittlerweile alle oben als Rafa und der Kerl aneinandergeraten. Rumschubsen, Wortfetzen, dann friemelt Rafa ein paar Quetzales aus seiner Hosentasche und die Typen machen sich davon. Erst jetzt wird mir endgültig klar, was da gerade abgelaufen ist. Auch Jan, David und Mauri rufen mittlerweile von oben, was da los ist. Die ganze Szene dauert höchstens eine Minute.

Was Sicherheit ist, vergisst man in Europa recht schnell. Der Wohlstand und seine halbwegs gerechte Verteilung haben dazu geführt, dass man diese Kategorie nicht mehr wahrnimmt. Sie ist einfach da. Wenn in Deutschland ein paar Jugendliche einen Mann in der U-Bahn totprügeln, beherrscht das wochenlang die Titelseiten. In Guatemala, wo täglich mehr als zehn Menschen erschossen werden, wäre das eine Randnotiz. Was für ein Luxus diese Sicherheit ist, merkt man erst, wenn man nachts nicht mehr um 1 Uhr vom Vorglühen auf die nächste Party laufen kann.

Anfänger seien das wohl gewesen, erzählt Rafa später. Die zwei Typen seien selbst ziemlich nervös rübergekommen. Zudem: unbewaffnet. Normalerweise käme man bei solchen Aktionen nicht mit 20 oder 30 Quetzales davon. Bei Überfällen auf Camionetas stiegen die Räuber vorne und hinten mit Knarren ein und einer würde dann abkassieren. „Mal sehen, was euch eure Bücher so bringen“, habe ihm mal ein Krimineller zugerufen, als er am Weg zu Universtität im Bus überfallen wurde.

Die Kids bolzen nach dem Überfall auf dem Staubfeld herum, auf dem wir nun auf die Polizei warten. Ob uns was passiert sei, fragen sie. Aufregung, Nervosität oder Angst scheint keiner zu haben. „Das war schon das zweite oder dritte Mal, dass mir sowas passiert ist“, sagt der zwölfjährige Josue.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Presseschau

Ein normaler Tag in Mittelamerika.

In Honduras brennt ein Gefängnis ab: 377 Tote.


Das guatemaltekische Umweltministerium soll vier Millionen Quetzales veruntreut haben.
Ein Polizist wird im guatemaltekischen Departamento Mixco mit vier Schüssen in die Brust hingerichtet.
Süß und gewagt.
In Mexiko werden neun Leichen gefunden.
Neue OECD-Studie: Ohne Trinkwasser steigt die Sterblichkeitsrate von Kindern und Müttern rapide an.
Nach dem Vorschlag vom guatemaltekischen Präsident Otto Perez diskutiert Zentralamerika über die Legalisation von Drogen.
Der guatemaltekische Torwart Ricardo Jerez ist seit 884 Minuten ohne Gegentor – Rekord in Zentralamerika.

Sonntag, 5. Februar 2012

Die Mango und ich – eine Liebesgeschichte ohne Happy End!

Den ersten Mangobaum meines Lebens sehe ich in Nicaragua. Kurz vor dem Pier, an dem unser Schiff zur Isla de Ometepe ablegen soll, liegen plötzlich überall grünliche Ovale zwischen den armlangen Pflastersteinen. Als wir sie einritzen, strömt der süßlich-herbe Duft aus dem klebrigen Nektar. Über unseren Köpfen hängen Tausende der grünen Früchte an dem immergrünen Sumachgewächs. 

Ein Mangobaum (Mangifera indica)
Die Mango: aufgewachsen im indischen Assam, ihren Siegeszug in die ganze Welt angetreten, 190mg Kalium auf 100 Gramm, 58 Prozent Tagesbedarfs an Vitamin A. Unsere Liebe war kurz und heftig. In Reportagen aus Afrika oder Asien klebte ich an den Nebensätzen über die vollhängenden Äste mit den gelb-roten Fruchtbällen. In den Asia-Gemüseläden in Erfurt blickte ich träumerisch auf die 5€-Flugmangos, die immer viel zu teuer waren. Die Mango und ich - das hätte hier in Guatemala ein Traumpaar werden können!

Unsere Trennung in Erfurt kam bitter und plötzlich. Ein Ballongesicht, Lippen wie nach einer Dolly-Buster-Ladung Collagen, leichte Atemnot. Kreuzallergie, so die Schnelldiagnose per Internet. Aus der Traum. Zerplatzte Liebe!

Nach fünf Wochen Mittelamerikareise zurück in Jocotenango: Nun sind die Mangos auch hier eingefallen. Überall verkaufen Straßenhändlerinnen die unreifen Früchte mit Chili und Pfeffer. Verschmerzbar, schmecken die grünen Teile nach mehreren Aussagen doch angeblich eher gemüsig und bitter.

Ein paar Tage später später grinsen mir die ersten gelben Exemplare aus den Tiendas in Jocotenango ins Gesicht. Kleiner als in Europa sind diese Exemplare, aber dafür so eidottrig gelb, so golden reif, dass ich dem Geschmack schon im Vorbeigehen nachschmachte.

Gestern in Antigua: Jetzt kommt anscheinend die komplette! Mango-Dröhnung. Mango: das eidottrig-gelbe Gold! Mango: das neue Fruchtneukölln! Die kleinen, goldenen Fruchtovale sind erwachsen geworden. Jetzt liegen neben den Bananen und Ananas auch grün-rötliche Frucht-Feinheiten. 





Zurück in Jocotenango greife ich ehrfürchtig zur abgepellten Schale von Jans Mango. Noten von Zimt, von reifen Beeren, oh du feiner Mangohauch!

"Ach, Kreuzallergie, Papperlapapp", denke ich kurz. Auf ins Mangovergnügen! Meine Rettung vor dem höchstwahrscheinlichen Allergieschock ist die Papaya. Zwei kleine Minitorpedos von dem "baumförmigen Kraut" hat unsere Gastmutter, Doña Elsa, in den Fruchtkorb gelegt. Wenn man Pech hat, haben diese Riesenbeeren einen Hauch von Erbrochenem, aber diese hier nicht! Buttriges Fruchtfleich, süßlicher Geschmack. Mit der Papaya kann man gut fremdgehen!

BAUMförmiges Kraut der Papaya

Sonntag, 27. November 2011

Gefühlswissen

Der Gestank muss schrecklich gewesen sein. An einem Donnerstag der vergangenen Woche ziehen Polizisten in Guatemala-Ciudad einen toten Babykörper aus einer Mülltonne. Sie bergen das, was von dem sieben Monate alten Leben übrig ist. Sie heben das tote Kind aus einer schwarzen Plastiktüte und können es nicht mehr identifizieren. Mir bläst der Fahrtwind unserer Camioneta in die Augen, als ich die Nachricht lese. Der "Prensa Libre" ist der Fund eine Randnotiz wert, 15 Zeilen, eine Spalte, rechts unten. "In Kürze" heißt die Rubrik. In Europa streiten zur gleichen Zeit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy über Euro-Bonds, über Geldgezerre. Die Online-Angebote vermelden den ersten Schnee in den USA.

Relationen. In einem Land, in dem die Boulevardzeitungen täglich mit Fotos von Leichenfunden aufmachen, ist der Babyfund Normalität. Das war mir schon vor meiner Abreise klar. Mir war klar, dass fast alles relativ ist. Und dass es ziemlich anstrengend werden könnte, jedes Mal seine alten Vergleichsschablonen auszupacken. Ich hatte gelesen, dass die soziale Scheere in Guatemala wie zwei Flügel auseinanderklafft. Ich hatte Fotos gesehen und Berichte gehört. Aber eigentlich wusste ich nichts.



Fühlen und wissen. Mit all den Buchstaben und Grafiken, mit all den Texten im Kopf sitze ich also in der Camioneta und denke über Relationen nach. Denke über Medienethik nach, über Privilegien und Gesellschaftssysteme. Eigentlich wiederhole ich nur alles, was ich schon weiß. Trotzdem ist es diesmal klarer. Vielleicht könnte man schreiben, dass ich mein Wissen fühle. Aber das wäre Kitsch.

Ortswechsel: Vor anderthalb Wochen eröffnen sich vor uns zwei grüne Flanken und formen ein seichtes Tal. Vor ein paar Minuten sind Vulkane und Wolken an unserem Pick-Up vorbeigezogen, jetzt steigen wir den steilen Pfad nach "Mano de Leon" hinab. In dem Pueblo auf knappen 1700 Metern ernähren sich die Menschen hauptsächlich vom Mais, der hier überall die Hügel säumt. Strom und fließendes Wasser gibt es nicht. Zwölfjährige bestellen in ihrer Freizeit mit armlangen Macheten dieeigenen Felder. Fleisch essen die Menschen hier selten oder nie.

Das soll sich heute ändern. Im Gepäck haben wir 20 Libras Rindersteak, die eine Frau aus Jocotenango für das Dorf gespendet hat. Schnell schaaren sich die Kinder um unseren Grill aus Steinen und zwei Metallrosten. Fast schüchtern warten sie in einer Linie auf ihre Portion, aber sie haben Hunger. Beim Anblick der Plastikbox mit den knappen 100 Stücken Fleisch für 20 Kinder hatte sich mein Dekadenzdenken wieder eingeschaltet, aber die Ninos – manchmal keine fünf Jahre alt – kommen einmal, zweimal, dreimal. Nach zwei Stunden ist die Box leer. 

Credits: a ver guate!
Ich könnte jetzt glücklich sein, weil die Kinder satt sind. Oder traurig, weil dafür Kühe sterben mussten. Aber in meinem Kopf startet ein anderer Film. In der Politologie streiten sie sich gerne über die richtige Entwicklungspolitik. Das fängt bei der Terminologie an. Entwicklungshilfe sagte man früher, heute heißt es Entwicklungszusammenarbeit. Ob man den sogenannten "Entwicklungsländern" nicht automatisch sein eurozentrisches Weltbild aufdränge, wird da gefragt. Ob es nicht nachhaltiger sei, kleine, indigene Dörfer ihre eigenen Wege gehen zu lassen? Zugespitzt könnte man formulieren, ob es besser ist, die Menschen an Hunger und Unterernährung sterben zu lassen oder die Gefahr einzugehen, sie zu retten und in ihrer eigenen Entwicklung zu beeinflussen. Aber das wäre zynisch.

Als mir der Carbon-Rauch ins Gesicht schlägt, passiert auf jeden Fall das Gleiche wie in der Camioneta. Ich kenne den Konflikt der Entwicklungspolitik, aber erst jetzt formt sich der Gedanke zu einem Bild. Er nimmt Gestalt an. Während ich noch beim Aufstieg von unserer Grill-Mission überzeugt war, fühlt es sich plötzlich komisch an, die Kinder beim Verschlingen der Fleischstücke zu beobachten. Wenn einige der Ninos tatsächlich noch nie Fleisch gegessen haben, wieso stimulieren wir jetzt dieses Bedürfnis? Wenn die Ernährung der Bergbewohner über Jahre im Einklang mit ihrer Natur funktioniert hat, wieso schlagen wir dann jetzt einen Keil in die Verbindung? Andererseits: triefen nicht gerade solche Gedanken von der Romantisierung des harten Lebens im Tal? Sollten wir nicht gerade den Menschen in "Mano de Leon" dieses Foodfest gönnen?



Wissen und fühlen. Nach unserem Besuch im Bergdorf, fühlen sich meine Gedanken über die Entwicklungsfrage zum ersten Mal gefestigter an. Wenn Wissen immer und überall abrufbar ist, muss man Dinge vielleicht erleben, um sie zu verstsehen. Vielleicht erklärt das, warum Menschen über den halben Globus jetten und in fremden Ländern arbeiten und leben. Vielleicht spricht aus solchen Überlegungen aber auch nur die absolute Übersättigung und Arroganz.

Im besten Fall fegt das Erleben die Vorurteile weg. Vor zwei Wochen herrscht ein kleiner Ausnahmezustand in "Los Patojos". Eine Delegatioin von "Just World" hat sich angemeldet. Wohlhabende Menschen aus Amerika, die das Projekt zum größten Teil finanzieren, wollen sehen, was mit ihrem Geld passiert. Deswegen üben die Klassen Rap-Songs ein, studieren Tänze, die Zirkus-Gruppe plant eine eigene Vorstellung. Wieder dämmert mir ein Uni-Text über das Nord-Süd-Gefälle, über Abhängigkeiten, über die herumdrucksenden Versuche des "Westens" sich von historischen Sündenfällen reinzuwaschen. Und dann fahren zwei abgedunkelte Jeeps vor und weiße Menschen strömen mit Videokameras und rosa Hemden in den Salon.

Hier könnte die Geschichte enden, aber nach zwei Stunden turnen die blonden Reitergirls von "Just World" wie jeder andere Voluntario auch mit den Ninos herum. Einige Jungs der Delegation hauen mir mit ihren Sprachskills mein 3-Monate-Spanisch gehörig um die Ohren. Und die Show wird von den Patojos aus unserem Projekt mindestens so hart gefeiert, wie sie die Erwartungen der Amerikaner erfüllt. 

Abends sitzen wir ziemlich durch im Projekt und trinken Gallo. Lehrergehälter für ein Jahr, eine neue Toilette, Ventilatoren für die Klassensalons, bilanziert der Projektleiter Pablo. Das ist natürlich eine Abhängigkeit der feinsten Sorte. Aber wie alle so leicht borracho dasitzen, sagt mir mein gefühltes Wissen, dass es für die knappen 100 Ninos im Projekt Wichtigeres gibt als diese theoretischen Bedenken. 



Die S/W-Fotos sind alle in Mano de Leon entstanden und wurden nachher in unserer Dunkelkammer mit Caffenol entwickelt!!! Die Foto-Action läuft nämlich endlich an!

Mittwoch, 9. November 2011

Como el circo

Verrückt. An den Bananenstauden kleben Wegweiser zu Yoga-Zentren, zu Massage-Fincas, zu All-Inclusive-Relaxangeboten für all die Burn-Out-Kandidaten unserer westlichen Wohlfühlgesellschaften. Für zwei Tage bin ich mit Jan an den Lago Atitlan gefahren, dorthin wo das Wasser so schön grün und die Vulkane so schön mit Bäumen bewachsen sind. Auch wir wollen hier ein paar Stunden entspannen und das funktioniert nicht schlecht, wenn man von dem 6-Meter-Turm gesprungen im klaren Wasser schwimmt und sich vor einem drei Vulkane in den Himmel strecken und Wolken einfangen. 

Fischer am Morgen

Es dauert trotzdem nicht lange, bis Jan (der hier mit schönen Lago-Bildern über fast das gleiche Thema gebloggt hat) und ich auf einem Felsen hocken und uns über unser derzeitiges Lieblingsthema echauffieren: Westlicher Postmaterialismus (von hier aus gesehen: östlicher), dieses sperrige Wort zwischen Arroganz und Aufklärung, Scheinheiligkeit und ziemlich vernünftigen Einsichten.

Einen Abend zuvor sitzen wir auf einer klapprigen Bühne und warten auf die Show. "Vamos a circo! Vamos a circo! Vamos a circo!" Seit einer Woche schreien die Zirkunsleute, die auf dem Acker gegenüber von Los Patojos aufgeschlagen haben, die Jocotenanger in ihr grünes Zelt. Für zehn Quetzales (ein Euro) ein guter Deal.

Die Sache mit dem Postmaterialismus. Hinter den Hecken verstecken sich in San Marcos die Ruhepole. Weiße Metallstangen formen kleine Pyramiden, dahinter sitzen weiße Menschen und verdrängen für 150 Quetzales am Tag ihre Alltagssorgen. Während die Seeanrainer mit den krassesten Überschwemmungen seit Jahrzehnten zu kämpfen haben (Wasserpegel um sechs Meter angestiegen), wollen sie hier nur Massage und Meditation, keine 3er-BMWs mehr, keine Flatscreens und erst recht keine Coca-Cola.
Also das, was auch unter den meisten Studenten als hip gilt: Den Fernseher rausschmeissen, mit dem Rad zur Uni, Club Mate als Erfrischung. So habe ich meine drei Erfurter Jahre auch zelebriert.

Die Show beginnt. Ein vielleicht 18-Jähriger schleudert Keulen durch die Luft, fängt sie ein, schleudert sie hoch, drei, vier, fünf, fängt sie ein, tauscht sie gegen Sombreros, die jetzt wie Bumerangs durch die Luft flattern. Dann kommen die Hunde. Dressiert und am Hintern rasiert hüpfen sie über den roten Boden, täuschen Pudel-Sex vor, tapseln in Röcken und Anzügen hintereinander her. Zwischen den Stücken geben die Zirkuskinder ihre Lachnummern zum Besten. Tanzen in Schlumpf-Kostümen herum, Zack, sexy Schläge auf den Schlumpfpopo. Die Menschen lachen, glucksen. Sie feiern hart, weil sie ihren harten Alltag für zwei Stunden vergessen können. 



Vor dem Abflug hatte ich gedacht, dass ich das Bedürfnis nach dicken Karren, nach Flatscreens und billigen Cokes nach Guatemala noch weniger würde verstehen können. Das ich die Zirkusgeschichte natürlich verurteilen würde. "Die armen Kinder, und dann erst die Hunde!"
Die Sache mit dem Postmaterialismus würde sich festigen, hatte ich gedacht. Und auch die Sache mit der moralisch richtigen Einstellung, die man sich als gesättigter Westler so leicht gönnen kann.

Aber ich sitze auf der Zirkusbank und denke, was ich hier schon oft gedacht habe. Dass es vielleicht gut arrogant ist, diese Zirkusleute einfach abzuurteilen, seinen schicken Lifestyle zu pflegen, und nach ein paar Monaten wieder in die (halbwegs) abgesicherte Zukunft abzuheben. Dass es hier in Guatemala vielleicht komisch kommt, über abgesägte Fernseher und aussortierte Cokes zu phrasieren. Dass die Pudel-Nummer natürlich an Tierqäulerei grenzt, aber dass die Zirkusleute vielleicht keine andere Wahl haben, weil das Publikum so eine Show sehen will.

In San Marcos kommt nach ein paar Minuten von rechts ein Guatemalteke auf unseren Felsen zugetaucht. An Land begleitet ihn ein anderer Mann mit Machete. Die beiden sind Indigenous und jagen Flusskrebse. Sie sprechen auch Spanisch neben ihrer Maya-Muttersprache und fragen uns, ob man in Deutschland Englisch spricht und ob es in Amerika Arbeit gibt. Als der Plastiksack mit den dahinsiechenden Tieren voll ist, fischt der Taucher ein Stück Seife aus seiner Tasche und springt vollgeseift in den Lago.

Die Sache mit der guten Moral, mit dem Postmaterialismus ist, dass die Gedanken dahinter nicht falsch sind. Für den Fischer ist es komplett normal, sich im See zu waschen, die Krebse zu jagen. Wenn aber alle Bewohner anfangen, ihre Seife in den See zu schmeißen, wird das zum Problem. Wenn jeder seinen Krebs essen will, gibt es bald keine mehr. Und die Arbeit, die in den Staaten für den vermeintlichen Wohlstand wartet, ist meistens auch nicht der Knaller. Ob es erstrebenswert ist, seinen eigenen See zu verschmutzen und nach schlecht bezahlter Arbeit für Geld für sinnlose Sachen zu schielen, muss jeder selbst wissen.

Das ist die Krux der Geschichte. Wahrscheinlich tut der Postmaterialist mit seinen moralischen Ansprüchen das Richtige, doch gleichzeitig erhebt er sich und sein Handeln. Das ist manchmal arrogant und immer anstrengend. Seine Ideale gibt er so auf jeden Fall nicht weiter.

Und wenn sich die Touris in San Marcos ihren Seelenfrieden erkaufen oder Hipster in Deutschland mit ihren in China gefertigen MacBooks aufgeregte Artikel über Arbeiterrechte und Umweltverschmutzung tippen, dann ist das auch nichts anderes als die zwei Stunden Zirkus hier in Jocotenango. Eine große, schöne, bunte Show.

Außerdem ist der Kurzfilm "Memorias de abril" online. Jan und ich haben gefilmt und geschnitten (auf einem Mac).